Focus Rechtsstaat – Polizeigewalt: Epileptischer Anfall nach Pfeffersprayeinsatz, Verfahrenseinstellung durch das AG Tiergarten nach § 153a Abs. 2 StPO (Veröffentlicht am 02.03.2023, zuletzt ergänzt am 15.11.2024)
Einer der schlimmsten hier bekannten polizeilichen Übergriffe ereignete sich im Rahmen der Demonstrationen gegen eine Änderung des Infektionsschutzgesetzes durch das „Vierte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ in Berlin am 21.04.2021.
Im Anschluss an den Schlag mit einem Pfefferspraykanister gegen den Kopf und einem aus nächster Nähe direkt ins Gesicht ausgeführten Spraystoß durch einen Angehörigen der Polizei Berlin ging der betroffene Mann zu Boden und erlitt einen epileptischen Anfall. Die in unmittelbarer Nähe stehenden Polizeibediensteten machten zunächst keine Anstalten, dem krampfenden Mann zu helfen.
Der Vorgang wurde auf der Website doku.video von Markus Hoffmann unter dem Titel „Polizeiangriff mit Pfefferspray, Berlin, 21.04.2021“ filmisch dokumentiert. Ich hatte im Mai 2021 unter Bezugnahme auf diese Dokumentation Anzeige gegen die beteiligten Polizeibediensteten wegen Körperverletzung im Amt und unterlassener Hilfeleistung erstattet.
Wie die Staatsanwaltschaft zuletzt mitteilte, hat sie zumindest gegen einen dieser Polizeibediensteten beim Amtsgericht Tiergarten Anklage wegen Körperverletzung im Amt erhoben. Nach Auskunft des Gerichts wird die Hauptverhandlung dort am 09.03.2023 stattfinden, die Verhandlung dürfte öffentlich sein (Az. (271 Ds) 232 Js 4415/21 (166/22)).
Es ist dies der erste Fall der zumindest von hier angezeigten Fälle von Polizeigewalt, in dem Anklage erhoben wird. Man darf auf den Ausgang des gerichtlichen Verfahrens gespannt sein.
Verfahrensbezogene Dokumente zu dem Fall dürfen derzeit nicht veröffentlicht werden (vgl. § 353d Nr. 3 StGB).
Ergänzung (Veröffentlicht am 11.10.2024):
Wie zuletzt verlautbarte, wird die zuvor vertagte Hauptverhandlung vor dem AG Tiergarten in der Strafsache gegen den Polizisten nun am Donnerstag, den 31.10.2024 um 9:00 Uhr in Saal A101 stattfinden. Wer der Verhandlung als Zuschauer beiwohnen möchte, sollte sich den Termin und den Saal vor der Anreise wegen stets auch kurzfristig möglicher Änderungen durch das Gericht telefonisch bestätigen lassen.
Ergänzung (Veröffentlicht am 15.11.2024):
Wie die Epoch Times am 08.11.2024 ausführlich berichtete [Archivlink], hat das AG Tiergarten das Verfahren gegen den angeklagten Polizisten –neben dem hier dargestellten Fall war noch ein weiterer angeklagt – gegen Zahlung einer Geldauflage von EUR 6.000,–, die Hälfte davon an den Geschädigten, nach § 153a Abs. 2 StPO durch unanfechtbaren Beschluss eingestellt. Damit ist das Verfahren abgeschlossen.
Der Verfahrensausgang ist so unbefriedigend wie bemerkenswert, nach Verfahrensende kann über den Fall nun auch detaillierter berichtet werden:
Ich hatte wegen des oben beschriebenen Vorgehens am 06.05.2021 bei der Staatsanwaltschaft Berlin Strafanzeige erstattet. Diese bestätigte mit Schreiben vom 14.05.2021 den Eingang der Anzeige, danach passierte über rund 18 Monate nichts; auf Sachstandsanfragen erfolgte die Mitteilung, die Ermittlungen dauerten an. Mit auf den 21.11.2022 datiertem Schreiben teilte der ermittelnde Staatsanwalt mit, gegen den Beschuldigten nunmehr Anklage wegen Körperverletzung im Amt erhoben zu haben.
Auf einen Antrag auf Aktenauskunft (§ 475 Abs. 1 S. 1 StPO) (Auszug) teilte der zuständige Richter beim AG Tiergarten im Juni 2023 mit, dass die Anklageschrift dort am 25.11.2022 eingegangen sei und im Dezember 2022 zwischen dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung Gespräche über eine Verfahrenseinstellung gegen Zahlung einer Geldauflage nach § 153a Abs. 2 StPO geführt worden seien. Die Staatsanwaltschaft habe zunächst ihre Zustimmung zu einem solchen Vorgehen signalisiert, habe davon im Januar 2023 jedoch ohne Begründung Abstand genommen.
Damit entspricht der letztliche Verfahrensausgang, die Einstellung des Strafverfahrens gegen den Polizisten nach § 153a Abs. 2 StPO nur dem von Seiten des Gerichts und der Staatsanwaltschaft offenbar von vornherein beabsichtigten. Es fragt sich, weshalb die Staatsanwaltschaft von ihrer zunächst – laut dem AG Tiergarten – avisierten Zustimmung zu diesem Vorgehen abrückte, um ihm rund zwei Jahre später doch zuzustimmen. Wollte man erst einmal etwas Zeit ins Land gehen lassen, bevor man die Angelegenheit – wie offenbar von vornherein angedacht – ohne weitere Aufklärung und vor allem ohne strafrechtliche Würdigung des Verhaltens des angeklagten Polizisten „auf dem kurzen Dienstweg“ beilegt?
Voraussetzung für ein solches Vorgehen wäre jedenfalls, dass diesem das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung und die Schwere der Schuld nicht entgegenstehen (vgl. § 153a Abs. 1 StPO). Dass beides hier der Fall ist, darf man zumindest bezweifeln. Es genügt jedoch, dass das Gericht, die Staatsanwaltschaft und der Angeschuldigte hierzu einer Meinung sind, was – offenbar von vornherein – der Fall war.
So bleibt einmal mehr ein überaus fader Beigeschmack, und es verfestigt sich der Eindruck, dass die Organe des Rechtsstaats an einer Verfolgung und strafrechtlichen Aufarbeitung ersichtlich überzogener polizeilicher Gewaltanwendung – erinnert sei auch an den Fall der gestorbenen älteren Dame in Berlin oder an den Einsatz einer sog. „Kopfhebeltechnik“ gegen einen 71-jährigen Mann in Landau – nicht interessiert sind. Dieses ebenso merkwürdige wie rechtswidrige Wohlwollen von Staatsanwaltschaft und Gerichten dürfte überzogenes gewaltsames Polizeihandeln in Zukunft nur befördern.
(Titelfoto:
Nach dem beschriebenen Vorfall am 21. April 2021 in Berlin,
Quelle: Markus Hoffmann, doku.video/pfefferspray)
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